Caramba, ein P! Kreatives Schreiben mit Kindern und Jugendlichen.
Mirco rutscht auf seinem Stuhl hin und her. Er würde bestimmt lieber draußen spielen. Wer hat ihn nur dazu verdonnert, an meiner Schreibwerkstatt teilzunehmen?
Samira kichert. Eigentlich immer, wenn ich sie anspreche. Geschrieben hat sie noch nichts. Sie malt lieber.
Leon redet nicht. Kein einziges Wort, niemals. Außer mit seinem Zwillingsbruder. Aber der ist nicht in der Schreibwerkstatt.
Manchmal erscheinen die Bedingungen für Schreibwerkstätten schwierig.
Und dann passiert das Wunder. Wir finden Perlen am Grund des Ozeans, in den Tiefen der Fantasie.
Die Übung geht vielleicht so: Schreib, was du willst, aber benutze immer nur den gleichen Vokal.
Was schreibt der zehnjährige Paul?
Mama tanzt am Waldrand Samba.
Papa sagt: „Caramba!“
Ja, caramba! Mehr kann auch ich erst einmal nicht sagen, nach diesen zwei Zeilen aus Pauls Gedicht. Caramba, ist das gut!
Zugegeben: Paul ist ein pfiffiger Junge. Er schreibt danach noch viele originelle Texte. Und es macht Riesenspaß, ihm dabei unter die Arme zu greifen. So sehe ich mich: Als jemanden, der Hilfestellung gibt. Und der sich ansonsten gefälligst erst einmal zurückhält. Ich benutze gern das Bild vom Sprungbrett, das ich den Teilnehmer*innen hinstelle, indem ich ihnen Schreibanreize gebe. Wie sie abspringen, ob sie Pirouetten drehen oder einen Salto schlagen, einen Bauchklatscher oder eine Arschbombe machen, das bleibt ihnen selbst überlassen.
Paul kann gut mit dieser Freiheit umgehen. Sie ermutigt ihn. Andere muss ich an der Hand zum Rand des Sprungbretts führen. Manche schubse ich auch darüber. Aber niemandem gebe ich das Gefühl, etwas leisten zu müssen. Gerade das spornt alle immer wieder zu Höchstleistungen an.
Ich übertreibe nicht, wenn ich von Höchstleistungen spreche. Und damit komme ich auf Leon zurück, den stummen Zwilling. Niemand hat mir gesagt, warum Leon nicht spricht. Ich will das auch gar nicht wissen, will ihn so nehmen, wie er mir gegenübertritt: als einen sympathischen Jungen, der meistens mit sich selbst beschäftigt ist und eben nicht sprechen mag. Tatsächlich macht er die Übungen mit wie alle anderen. Er liest seine Texte nur nicht vor. Und das ist in Ordnung.
Aber dann erleben wir eines Tages den magischen Moment. Die Gruppe kennt sich nun schon einige Wochen. Wir haben Vertrauen aufgebaut und Rituale entwickelt. Bei einem Warm-up stehen wir im Kreis und buchstabieren um die Wette. Klingt langweilig, macht aber allen Riesenspaß. Und an diesem Tag bleibt Leon nicht mehr stumm. Er sagt, zwar leise, aber hörbar, weil plötzlich alle ganz still sind: „P.“
Und ich bekomme Gänsehaut.
Das war keine kreative Leistung. Leon hat keine eigene Geschichte, kein eigenes Gedicht vorgelesen. Aber er hat gesprochen! Zum ersten Mal haben wir Leons Stimme gehört. Diesen einen Buchstaben auszuhauchen, war eine Höchstleistung für ihn. Ich bin stolz auf Leon. Und auf die Gruppe, weil sie ihm die nötige Sicherheit gegeben hat.
Manchmal geht es in einer Schreibwerkstatt also gar nicht ums Schreiben.
Autor*in:
Sascha Pranschke
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