„Grenzen sind lebenswichtig“ – Interview mit Performance-Künstlerin Nezaket Ekici
In ihren Arbeiten als Performance-Künstlerin konzentriert sich Nezaket Ekici auf Themen wie Identität, Gesellschaft, Kunstgeschichte und Religion. Dabei bilden Ideen aus dem Alltagsleben oft die Basis ihrer Performances. Als Erzählinstrument setzt Ekici vielfach ihren Körper ein, den sie in Live-Performances, Installationen und Videoarbeiten inszeniert.
Was ist Ihr Konzept zum Thema Grenzen innerhalb Ihrer künstlerischen Praxis?
Grenzen finden sich in allen Bereichen. Meine Grenzerfahrung liegt in der kulturellen Identität, weil ich in der Türkei geboren und in Deutschland aufgewachsen bin. Dadurch ergeben sich für mich Themen, die sich mit Überschreitung der Grenzen oder Tabus beschäftigen. Aber auch in anderen Bereichen gehe ich mit dem Thema Grenzen um. Indem ich Arbeiten schaffe, die das Extreme zeigen, versuche ich, den Körper und seine Seele an die Grenze zu bringen. Und vor allem zu schauen, was danach kommt.
Welche Bedeutung haben Grenzen im Feld der performativen Künste?
Meine Themen sind vielfältig und ich arbeite im Wesentlichen konzeptionell. Es geht mir darum, inhaltliche und bildliche Ideen, Visionen umzusetzen. Die Grenze kommt dann immer von ganz allein ins Spiel, aber nicht explizit in jeder meiner Performances. Grundsätzlich ist die Grenze aber für die performativen Künste konstitutiv. Die künstlerische Performation besteht sozusagen darin, auf eine Grenze hin, um eine Grenze herum oder über sie hinweg zu agieren. Für mich gilt: Wenn ich eine Grenzerfahrung durchlebe, bin ich nahe der Erschöpfung und der Körper macht, was er will. Das Publikum bekommt dies mit und kann es mitfühlen – positiv oder negativ. In jedem Fall können die Menschen etwas Existenzielles daraus mitnehmen und auf ihr eigenes Ich übertragen: Die Grenze ist quasi ein Katalysator für Neues.
Warum bedienen Sie sich in Ihren Performances an Themen aus dem Alltag?
Das ganze Leben ist im Grunde eine Grenzerfahrung. Schon die Geburt ist nicht einfach, die Pubertät ist ein Kampf. Danach muss man im Erwachsenwerden sein Leben finden und sich schließlich mit dem Altern auseinandersetzen. Das ganze Leben ist ein Prozess und die Grenzerfahrung ist fest damit verbunden. Meine Performances bedienen sich bewusst am Alltag, aber transformieren die Themen und greifen sie mit anderen Perspektiven oder Fragen auf. Sie stellen sie nicht mit dem Zeigefinger in den Raum, sondern immer fragend, was dort gemeinsam erlebt wird. Performance ist nicht nur der*die gebende Künstler*in, sondern der gemeinsame Moment des Erlebens, in dem etwas Neues passiert: daraus entsteht das Kunstwerk.
Wofür sind Grenzen gut?
Grenzen sind lebenswichtig. Es geht dabei auch um Kampf. Das ganze Leben besteht immer daraus, Hindernisse zu bewältigen und sich auf Neues einzulassen. Das braucht Kraft und Energie. Indem man die Grenzen nutzt, erkennt man an seinem Körper und an seiner Seele, wo man steht und was danach passiert. Nicht unbedingt, um einen Schmerz zu bewältigen, wie Marina Abramović sagt. Sondern um die Grenze anzunehmen, damit umzugehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Was passiert mit dem Körper und dem Geist? Dieser Prozess ist für mich wichtig.
Woran hindern Grenzen?
Grenzen können einschränken. Aber wenn man einen Schritt weitergeht, kann man damit zur Freiheit kommen. Ich will die Grenzen ja überschreiten. Das ist ein Schritt in die Freiheit. Deshalb gibt es so viele Arbeiten von mir, in denen es um Ausbrechen geht oder darum, etwas zu durchbrechen und wohin zu gelangen. Wenn man eine Grenze überschreitet, beschäftigt man sich auch mit dem Thema der Freiheit.
Ziehen Sie eine Grenze zwischen Ihrem Leben, künstlerischer Praxis und Vermittlung?
Ich lebe 24 Stunden am Tag in meiner Performance und kann das nicht von meinem Leben trennen. Ich stehe damit auf, ich gehe damit schlafen. Alles ist bei mir Performance – wie ich spreche, wie ich agiere. Bewusst oder unbewusst. Leuten, die bei mir einen Workshop machen, sage ich: Wenn ihr an einer Performance interessiert seid, müsst ihr absolut offen dafür sein und euch auf euren Geist und Körper einlassen können. Ihr müsst mit Bewusstsein und einem festen Willen daran gehen. Ihr müsst euch fragen: Was wollt ihr erreichen? Was wollt ihr zeigen? Was wollt ihr mitteilen? Das sind existenzielle Fragen voller Intensität. Die Teilnehmer*innen bekommen in kürzester Zeit einen Crash-Kurs und erfahren, was ich in vielen Jahren Studium und Leben erlernt habe. Gleichzeitig müssen sie auch viel von sich geben, um gemeinsam etwas zu erreichen. Nur dann wird es spannend. Wenn man sich damit auseinandersetzt, Fragen stellt und ausprobiert. Ohne Offenheit für Körper und Geist und der Neugier eines Kindes funktioniert das nicht. Man braucht Lust zum Machen und Ausprobieren. Was sind die besten Mittel, um Grenzen zu sprengen? Es zu machen, ist das beste Mittel. Und keine Angst davor zu haben. Man muss offen und ehrlich dazu zu stehen und die Grenze durchleben. Eigentlich kann das jede*r. Man muss es nur im Kopf wollen und es hat etwas damit zu tun, was man im Leben erreichen möchte. Wenn ich den Willen habe, den höchsten Berg zu erklimmen, und keine Angst davor habe, dann kann ich das auch.
Wo liegen in Ihrer künstlerischen Arbeit Grenzen, die Sie nicht überschreiten?
Ich liebe den Geruch von Currywurst, esse sie aber nicht. Das bezieht sich auf das Schweinefleisch und ist eins meiner Prinzipien. Ich will kein Schwein essen, weil ich es von der Kindheit an so gelernt habe. Das ziehe ich durch. Zweitens: Ich mache meine Performances fast nackt, aber nie ganz nackt. Auch das ist ein Prinzip, das ich mir gesetzt habe. Ich muss nicht alles zeigen. Ich kann auch mit wenigen Elementen, verhüllt und trotzdem fast nackig, hinkommen, wo ich hinmöchte. Diese Prinzipien haben mit meiner kulturellen Identität, meiner Geburt in der Türkei und dem Aufwachsen in Deutschland zu tun. Mit diesen beiden Elementen spiele ich aber auch und lote deren Grenzen aus.
Die international bekannte Performance-Künstlerin Nezaket Ekici hat mehr als 250 Performances und Installationen in über 60 Ländern auf vier Kontinenten präsentiert. Sie ist Meisterschülerin von Marina Abramović und erhielt neben mehreren Stipendien den Paula Modersohn-Becker Kunstpreis für ihre Ästhetik und klare Formsprache in ihren Werken. In der Akademie der Kulturellen Bildung gibt sie vom 16.1. – 20.1.2023 „Mehr als Lebensmittel. Lebensmittel als Inspirationsquelle für Performances“.