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Machtkritische und emanzipatorische Bildungsarbeit im Kollektiv

Unartig Urban - Interview mit Davide Brocchi, Initiator vom „Tag des guten Lebens“

Interview mit stuhlkreis_revolte

Die stuhlkreis_revolte arbeitet als Kollektiv aus freiberuflichen Moderator*innen, das nebenwie hauptberuflich Bildungs- und Gruppenprozesse begleitet. Sie verfolgt den Anspruch, Bildung selbstbestimmt und bedürfnisorientiert zu gestalten und Betroffene zu Beteiligten zu machen.

Was bedeutet für euch emanzipatorische Bildungsarbeit?

Joscha: Der Begriff emanzipatorisch bedeutet für mich (Selbst-)Ermächtigung. Meine Arbeit soll Menschen dabei unterstützen, handlungsfähig(er) zu werden. Das gilt für jede*n einzelne*n Teilnehmer*in, aber auch für die Gruppe als Gefüge auf individueller, kollektiver und gesellschaftlicher Ebene.

Ein wichtiges Element dabei ist, dass Teilnehmende sich gegenseitig stärken. Dabei spielt auch meine Haltung eine wichtige Rolle, denn meist arbeite ich so, dass ich mich langfristig idealerweise „überflüssig“ mache und die Gruppe ihre Wege selbstständig weiter beschreiten kann.

Julian: Ich stimme Joscha zu, dass emanzipatorisch bedeutet, dass Teilnehmende in ihrer eigenen Handlungsfähigkeit unterstützt werden. Einher geht das für mich zwangsläufig damit, die eigene Arbeit immer wieder zu hinterfragen, zu besprechen und zu reflektieren. Mit und vor den Gruppen wie auch mit Auftraggebenden und unter uns.

Warum ist es euch als Kollektiv wichtig, eure gesellschaftlichen Positionierungen immer mitzudenken und auch auszusprechen?

Joscha: Ich bin in vielen Aspekten sehr privilegiert (deutscher Pass, weiß, in einer mittelgroßen Stadt aufgewachsen, in einem ostdeutsch-bürgerlichen Elternhaus, studiert, freiberuflich, viele Netzwerke). Auf einigen Ebenen erfahre ich aber auch Diskriminierung und Ausgrenzung (fette Lesbe und Butch, nicht-binäre Person, die immer wieder weiblich gegendert wird, Ossi, Anarchist*in und – damals – linke Jugendliche in Sachsen-Anhalt, Person mit psychischer Beeinträchtigung und Mobbing-Erfahrung). Alle diese Label (und so viele mehr) muss ich immer wieder betrachten und mich selbst sowohl in einem gesellschaftlichen Kontext als auch im Kontext der Gruppe verorten. Manchmal nutze ich meine Positionierungen als Werkzeug, um eine selbstkritische Reflexion bei den Teilnehmenden herauszufordern. Manchmal aber auch, um Kontaktpunkt zu sein für Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. Und natürlich muss ich auf dem Schirm haben, welche Erfahrungen ich eben nicht selbst gemacht habe, wo ich Leerstellen habe in meinem Wissen über andere Lebensrealitäten. Das hilft mir, sensibler und vorsichtiger zu formulieren und mich ständig fragend fortzubewegen.

Innerhalb des Kollektivs versuchen wir, sehr kontinuierlich im Gespräch zu bleiben über unsere jeweiligen Erfahrungswelten. Damit wir uns gegenseitig besser verstehen und Aushandlungen sensibel stattfinden können, aber auch um unsere Arbeit immer wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Julian: Wir machen unsere Arbeit ja nicht in einem leeren Raum. Wo wir tätig sind, ist Realität und Menschen bringen sich, ihre Positioniertheiten, Sichtweisen und auch Diskriminierungserfahren mit. Auch ich bringe meine mit. Wir stellen zum Beispiel immer wieder fest, dass ich als männlich gelesener Teamer von Gruppen häufig anders, nämlich mehr in Führung, mit vielen positiven Bezügen und wenig Kritikpunkten, behandelt werde als Kolleginnen, die weiblich oder non-binär gelesen werden. Aus diesem Grund ist es uns wichtig, miteinander, aber auch mit Gruppen im Blick zu haben, wer hier zusammenkommt und was damit einhergeht.

Was bedeutet es für euch, eine machtkritische Perspektive im Bildungskontext einzunehmen?

Julian: Ich weiß gar nicht, ob ich das immer schaffe oder ob das mein Ziel ist. Aber vermutlich ist es das schon, wenn wir in Absprachen mit Auftraggebenden oft auf die Teilnehmenden schauen und fragen, was die Interessen der Zielgruppen eigentlich sind und nicht nur das, was Auftraggebende möchten und wollen oder was Finanzpläne vorschreiben. Machtkritik in der Bildungsarbeit heißt übrigens auch, auf eigene Verwobenheiten zu schauen und auf die Macht, die jemand hat, der*die vor Gruppen steht und diese anleitet.

Ketie: Mir geht es darum, gesellschaftliche Machtachsen darzustellen und wie diese innerhalb einzelner Gruppen wirken. Wenn diese sichtbar werden, werden sie häufig besprechbar und veränderbar. Ich möchte Gruppen befähigen, auch durch schwierige Themen gemeinsam durchzugehen, damit alle Teilnehmenden handlungsfähig werden und die Möglichkeiten, Sachen zu machen, gerechter verteilt sind. 

Was bedeutet es für euch, im Kollektiv zusammenzuarbeiten? Wie nutzt ihr das Kollektiv für eure eigene Professionalisierung?

Joscha: Das Kollektiv ist mein bisher beständigster selbstorganisierter Kontext. Wir arbeiten in einer größeren Gruppe, aber individuell selbstbestimmt und ohne Chef*in. Ich lerne dabei unfassbar viel und oft kann ich diese Erfahrungen in meine Arbeit mit Gruppen einfließen lassen und wichtige Tipps mit auf den Weg geben.

Über Intervision, interne Fortbildungen und die Arbeit in Tandems haben wir die Möglichkeit, immer voneinander zu lernen. Außerdem gibt mir kollektives Arbeiten einen starken Schutzraum, zum Beispiel wäre die Änderung meines Namens oder mich hin und wieder mit „schwierigen“ Auftraggebenden auseinanderzusetzen sehr viel schwieriger, wenn ich darauf angewiesen wäre, mich als Solo-Selbständige*r zu vermarkten.

Julian: Was Joscha benennt, resultiert in einem Lohnarbeitskontext, der mir ermöglicht, meiner Arbeit sehr selbstbestimmt nachzugehen, mit Kolleg*innen über Arbeit und auch Politisches sprechen zu können und ganz klar auch gestärkt als Gruppe aufzutreten. Wir können als Kollektiv einfacher mit anderen über heikle Themen sprechen, wie schlechte Bezahlung oder diskriminierende Strukturen, weil wir uns Sicherheit geben.

Welche Potenziale und welche Herausforderungen seht ihr in den Ansätzen der Kulturellen Bildung, eine machtkritische Perspektive im Bildungssystem einzunehmen?

Julian: Kulturelle Bildung erreicht viele Menschen und auf anderen Wegen als etwa Schule oder Seminare der politischen Bildung. Das ist eine Chance, Diskurse mithilfe der Angebote der Kulturellen Bildung zu führen. Außerdem ist die Landschaft sehr divers: Es gibt tolle Anbieter*innen, die die Vielfalt unserer Gesellschaft gut abdecken und thematisieren.

Interview: Susanne Endres und Nadine Rousseau

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