Spielwelten sind Bildwelten. Abschied von der Normalität in Blau und Rosa?!
Spielend verabschiede ich mich von der „normalen“ Welt und übertrete die Schwelle zum magischen Kreis der Spielwelt. Hier sind sie alle versammelt, meine alten Spielzeugfreund*innen, meine Held*innen, meine Puppen, meine Weggefährtinnen, meine Avatare. Um mich herum reihen sich zahlreiche (Ab-)Bilder der Welt, die für mich Bedeutung haben: Frauen mit extralangen Beinen und Haaren, Zauberer mit weißen Bärten, Lastwagenfahrer, Polizisten, kleine Feen mit Glitzerstaub, die gern putzen, Männer mit Muskeln und Schwertern, Friseursalons, Frisierpuppen, Parfümlabore, Reiterinnen mit geschmückten Pferdchen und Kuscheltiere mit riesigen Glitzeraugen …
Und haben Sie schon erraten, mit welchem Geschlecht ich mich identifiziere? Genau! Spielzeug und die entsprechenden Kaufentscheidungen unterliegen einem knallharten Gendermarketing, das sich deutlich in den Kinderzimmern widerspiegelt. Rosa und Blau sind längst nicht ausgestorben. Nach wie vor zieren gefährliche Dinosaurier die meisten „Jungszimmer“. Die binären Geschlechterrollen assoziieren mit Jungen immer noch – oder sogar deutlicher – Attribute wie Stärke und Weltgewandtheit und schreiben ihnen die Rolle der Entscheider und Macher zu. Wohingegen Attribute wie Schönheit und Häuslichkeit den Mädchen zugeteilt werden. Ihre Rolle ist die der Kümmerin und Beziehungsexpertin. All diese Bilderwelten werden gegossen in eine unendliche Vielzahl von Produkten der Spielwarenindustrie.
Die Dekonstruktion von Geschlechterstereotypen mag noch auf der Hand liegen. In Spielwelten jedoch sind weitere Differenzlinien, wie Hautfarbe, Behinderung und Alter, bislang selten oder gar nicht vertreten. Die Sehgewohnheiten von Kindern in Deutschland bewegen sich demnach in einer Bilderwelt, die kaum Abweichungen von einer weißen, heteronormativen „Normalität“ zulässt.
Doch es gibt Hoffnung! Nicht nur die Pädagogik, sondern auch einige Vertreter*innen der Spielwarenhersteller, der Gaming-Branche und der Bilderbuchverlage haben entdeckt, dass die vermeintliche „Normalität“ verstaubt ist und eine Neuauflage verdient. Voran schreiten neue Figuren von Held*innen, Anti-Held*innen und Anti-Anti-Held*innen. Repräsentierten die Helden der 1980er und -90er Jahre noch eindimensionale männliche Muskelprotze mit Hang zur Opferbereitschaft und Risikofreude im Angesicht des Bösen (natürlich, um die hilflose Frau in Not zu retten), sind die Held*innen-Figuren heute viel diverser. Sie hadern mit ihrem Schicksal, sind mal verschlagen, rebellieren gegen soziale Normen, sind manchmal lasterhaft und asozial und besitzen doch Charisma und Identifikationsmöglichkeiten.
Diese neuen Bilder von Held*innen kommen kleinen „Schummeleien“ beim Spielen gleich. Sie stellen zwar nicht das gesamte Spiel infrage, rütteln jedoch an den Grundfesten der Normvorstellungen, begehen kleine Regelbrüche, decken Zwänge auf und schaffen Nischen für Abweichungen. Dekonstruktion und Dekodierung passieren spielerisch und machen Freude am Anderssein. Sie bieten mehr Identifikationsmöglichkeiten für Menschen.
Wenn diese Bilder von neuen Held*innen quasi in symbolischen Akten die „normale“ Welt, die Alltagsrealität erschüttern, ist es vielleicht an der Zeit, dieses Beben zu nutzen, um aus der gewohnten Spielwelt eine zu machen, die mehr Vielfalt in ihren Repräsentationen zulässt und so zu einer Welt der Möglichkeiten für viele wird.
Daher bringt der Fachbereich Spiel die Ordnung durcheinander und lädt explizit Kinder mit zu den Kursen ein, um vielfältige Spielwelten zu erkunden – als Held*innen oder Baukünstler*innen.
Autor*innen: Susanne Endres, Nadine Rousseau
→ Kurs-Tipp: „Housing: Buden, Verstecke und Versammlungsorte“ 12.8. – 16.8.2024