Unartig Urban – Interview mit Davide Brocchi, Initiator vom „Tag des guten Lebens“
Die Stadt ist ein Ort der physischen Präsenz, Plattform für Begegnung und Kommunikation. Sie birgt das Potenzial des sich Vernetzens, Versorgens, Miteinanderlernens und (Re-)Agierens im Sinne einer sozialen und nachhaltigen Idee des Zusammenlebens. Gerade heute bildet die Stadt einen Gegenentwurf zu den anonymisierten und entkörperlichten Lebenswelten digitaler Technologien der Globalisierung. Wie können wir – selbstwirksam, partizipativ und nachhaltig – auf urbane Strukturen Einfluss zu nehmen? Baukulturelle und künstlerische Interventionen, die mutig und unkonventionell in das Stadtleben eingreifen, irritieren, neue Wege und Räume eröffnen und neue Handlungs- und Interaktionsmuster etablieren, sind dabei Möglichkeiten der Mitgestaltung.
Welche Synergie-Effekte zwischen Kunst und Stadt hast du in deiner Arbeit erlebt?
Lebenswerte Städte sollten als „Soziale Plastik“ mitgestaltet werden, nach dem Motto von Joseph Beuys „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Nach Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten der Fremdbestimmung haben die meisten Menschen jedoch verlernt, Freiheit zu leben. Beim „Tag des guten Lebens“ in Köln oder Berlin sind die Straßen autofrei und sollen als Freiraum für das gute Leben dienen, da können viele nicht weiterdenken, als an Straßenfest oder Flohmarkt. Es findet an vielen Stellen eine innere Selbstzensur statt, die die Kreativität einengt. In Verwaltungen, Betrieben, Schulen oder in Nachbarschaften sind Menschen oft in gewohnten Strukturen und Verhaltensmustern gefangen. Deshalb bringen physische Freiräume wenig, wenn es keine geistigen gibt. Es ist ein wichtiges Merkmal von Kreativität und Kunst, dysfunktional zu wirken und angebliche Normalitäten infrage zu stellen. Genau hier wünsche ich mir eine Mitwirkung der Künstler*innen im engen Sinne. Die Transformation der Städte zur Nachhaltigkeit erfordert eine ständige Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ und ungewohnten Perspektiven. Die Kunst kann als Möglichkeitsraum dienen, in dem Menschen über Alternativen nicht nur reden, sondern diese selbst entwerfen, gemeinsam erlebbar umsetzen und weiterentwickeln.
Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Welcher Nachhaltigkeitsbegriff ist aus deiner Sicht relevant, um Stadtleben zukunftsfähig zu machen?
Ich verbinde Nachhaltigkeit mit einem doppelten, komplementären Verständnis.
Zuerst ist Nachhaltigkeit eine Notwendigkeit. Sie ist der Gegenentwurf zu jeder Entwicklung, die soziale Systeme in eine Sackgasse führt. Die Klimakrise und der Schwund der Biodiversität sind nur ein Aspekt der heutigen „Multiplen Krise“. Bei diesem Verständnis ist Nachhaltigkeit ein Synonym für Resilienz, es geht also um die Frage, wie soziale Systeme (Städte inbegriffen) widerstandsfähiger und beweglicher werden können. Da Monokulturen, landwirtschaftliche wie ökonomische und geistige, besonders anfällig für Krisen sind, bedeutet Nachhaltigkeit kulturelle Vielfalt. Die kulturelle Vielfalt ist für die Resilienz einer Gesellschaft genauso wichtig, wie es die Biodiversität für die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen ist, das hat auch die UNESCO 2001 erkannt.
Nachhaltigkeit ist aber auch eine Chance. Sie steht für eine Entwicklung, die ein „gutes Leben für alle“ ermöglicht (künftige Generationen inbegriffen). Während die Modernisierung Wohlstand mit Wirtschaftswachstum gleichsetzt, geht Nachhaltigkeit von einem multidimensionalen Verständnis von Wohlstand aus, das neben ökonomischen vor allem ökologische, soziale und kulturelle Belange berücksichtigt.
Nachhaltig ist eine Entwicklung, die nach menschlichem Maß stattfindet. Das gute Leben muss nicht unbedingt erfunden werden. Wir können von anderen Kulturen und Subkulturen lernen. So ist das „Buen Vivir“ (gutes Leben) seit Jahrhundert die Lebensweise der indigenen Völker in den Anden. Dem Wachstum ziehen sie ein Leben im Gleichgewicht mit der Natur vor, dem Wettbewerb die Solidarität. Innerhalb unserer Gesellschaft wird das gute Leben in Nischen bereits erprobt, zum Beispiel in Urban-Gardening-Projekten, durch regionale Wirtschaftskreisläufe oder in menschengerechten Städten wie Kopenhagen.
Beide Verständnisse von Nachhaltigkeit erfordern eine Veränderung der sozialen und der kulturellen Verhältnisse in der Gesellschaft als bloß nur technologische Innovation. Warum immer weiterwachsen, wenn man auch umverteilen bzw. miteinander teilen kann? Dort, wo Menschen kooperieren statt konkurrieren, ist der Naturverbrauch niedriger. Mehr Gemeinwesen statt Privatwesen kommt allen Menschen zugute.
Krisen sind auch Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen: Wer macht die Entwicklung für wen? Wer baut die Städte für wen? Bürgerbeteiligung erhöht die Identifikation mit der eigenen Stadt, doch „Bürgermacht“ kann es nur dann geben, wenn woanders Macht abgegeben wird.
Nachhaltigkeit benötigt eine Wiedereinbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft. Neben ökonomischem Kapital geht es dabei vor allem um Sozialkapital, es macht soziale Systeme resilienter und beweglicher.
Welche Haltung der beteiligten Akteur*innen, ob Künstler*innen, Urbanist*innen oder andere Teilnehmer*innen, ist entscheidend für einen nachhaltigen Erfolg künstlerisch-baukultureller Interventionen?
Worte wie Nachhaltigkeit, Demokratie oder Miteinanderteilen können schnell in den Mund genommen werden. Und doch ist die Botschaft überzeugender und ansteckender, wenn sie (vor-)gelebt wird. Der eigene Habitus wirkt sich sehr selektiv im Prozess aus. Auch in partizipativen Prozessen ist die Tendenz groß, unter sich zu bleiben, denn: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Solche Wahrnehmungsblasen fördern Derealisierungsprozesse in der Gesellschaft. Wenn Wahrnehmung und Wirklichkeit auseinanderklaffen, muss irgendwann eine Krise die Lücke schließen. Damit es zu solchen Wahrnehmungslücken nicht kommt, braucht eine Gesellschaft gesunde, starke Sinnesorgane, die für eine Kommunikation mit der äußeren und inneren Umwelt sorgen. Neben der Zivilgesellschaft, einer freien Presse und Wissenschaft sind auch die Künste besonders wichtig. Sie fördern die Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ und mit anderen Perspektiven. Je breiter die Wahrnehmungshorizonte sind, in denen eine Gesellschaft ihre Entscheidungen trifft, desto nachhaltiger sind sie. Wenn wir Nachhaltigkeit auf diese Weise verstehen, dann geht es weniger um Elektroautos, sondern viel mehr um Neugierde, Toleranz, Reflexions- und Lernfähigkeit. Die Voraussetzung für einen Dialog mit fremden Perspektiven ist die Augenhöhe. Es gibt keine echten Lernprozesse dort, wo soziale Ungleichheit herrscht. Deshalb sollten Mechanismen des sozialen Ausgleichs überlegt und praktiziert werden, so dass die Reichen auch einmal von den Armen lernen, die „Experten“ von den „Laien“, der globale Norden vom globalen Süden. In einer Atmosphäre des Vertrauens hat es eine Transformation zur Nachhaltigkeit deutlich leichter, als dort, wo Misstrauen herrscht. Und Vertrauen kann nicht in den virtuellen Räumen des Internets entstehen, sondern braucht die persönliche Kommunikation und realphysische Räume: Begegnungsräume, nachbarschaftliche Wohnzimmer, Agora, Urban-Gardening-Projekte. Räume, die als Gemeingut selbst eingerichtet und selbst verwaltet werden, wirken sich als Identifikationselement (Totem) in der Vielfalt aus und fördern den Zusammenhalt. Hier könnte auch eine Perspektive für menschenleere Kirchen liegen: Wie wäre es, wenn sie von der jeweiligen Nachbarschaft als Gemeingut eingerichtet und verwaltet werden?
Davide Brocchi ist Diplom-Sozialwissenschaftler und als Forscher, Autor, Begleiter sowie als Mitgestalter von Transformationsprozessen tätig. Er wuchs in Italien auf, lebt seit 1992 in Deutschland und seit 2007 in Köln. Er hat den „Tag des guten Lebens“ in Köln und Berlin initiiert und entwickelt. Weitere Informationen: tagdesgutenlebens.koeln, tagdesgutenlebens.berlin und davidebrocchi.eu
Ein weiteres Video-Interview mit Davide Brocchi gibt es in unseren Werkstatt-Gesprächen.
→ Kurs-Tipp: Qualifizierung „Unartig urban: Künstlerisch-baukulturelle Interventionen für ein nachhaltiges Stadt(er)leben“
Autor*innen: Dr. Kawthar El-Qasem, Brigitte Dietze