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Verwanzte Waldlichtungen und die NSA

Eine in die Jahre gekommene Kunstinstallation ist immer noch aktuell

Screenshot der Website http://www.waldprotokolle.florianmehnert.de/

Als Reaktion auf die weltweiten Abhörmaßnahmen der NSA (National Security Agency) hat sich der Konzeptkünstler Florian Mehnert gefragt, wie Kunst auf die albtraumhaften Enthüllungen von Edward Snowden reagieren könne. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die öffentliche Empörung über diese Praktiken weitgehend ausgeblieben ist.

Mit seiner Kunstinstallation „Waldprotokolle“ lenkt Mehnert die Aufmerksamkeit auf die allgegenwärtige Gefahr der im Verborgenen stattfindenden und wenig greifbaren Überwachung und den Befund, dass es im digitalen Zeitalter keine Privatsphäre mehr gibt. Die Beobachtung, dass die meisten Menschen ihren verwanzten Alltag kaum noch wahrnehmen, hat ihn zu einer provokanten Kunstaktion getrieben, die Befremden und Unbehagen über die Verletzung der Privatsphäre und ein öffentliches Nachdenken darüber auslösen sollte.

In einem Waldstück im Schwarzwald hat Florian Mehnert 2013 über mehrere Tage hinweg an Wegen und Lichtungen offen sichtbare Mikrofone und versteckte Wanzen angebracht und die zufälligen Gespräche vorbeigehender Menschen aufgezeichnet. Diese hat er als begehbare Kunstinstallation für Ausstellungsbesucher zugänglich gemacht und schließlich online. Die Tonspuren hinterlassen tatsächlich den Eindruck, ungewollt in die Privatsphäre fremder Menschen hineinzustolpern und etwas zu hören, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist.

Die Kunstinstallation hat Mehnert viel öffentliche Resonanz und Zustimmung, aber auch ein Ermittlungsverfahren der Polizeidirektion Freiburg wegen des Straftatbestandes der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes eingebracht. Mehnert fand es absurd, dass die NSA etwas darf, was ihm als Künstler verboten wurde. Die Frage, ob die Betroffenen die aufgezeichneten Tonspuren ihrer Gespräche für wichtig oder belanglos halten, spielt für Mehnert keine Rolle. Denn die Entscheidung, ob eine Lebensäußerung belanglos oder wertvoll ist, treffen ohnehin andere Instanzen. Entscheidend ist, dass Menschen getrackt werden können. Die schiere Existenz von Datenspuren lädt dazu ein, Menschen zu kategorisieren, ihr Verhalten zu lenken und Urteile über sie zu fällen. Weil dies im Verborgenen geschieht, hält Mehnert die weitverbreitete Ansicht „Ich habe doch nichts zu verbergen“ für naiv und brandgefährlich. Sie führe dazu, sich diesen Urteilen wehrlos und ohne Not auszuliefern und sich der Gefahr auszusetzen, die Kontrolle über die Deutung des eigenen Lebens zu verlieren. Angesichts der Machtasymmetrien, die der digitale Überwachungskapitalismus hervorbringt, eine durchaus reale Gefahr. Die Geschichte über das eigene Leben wird dann von anderen erzählt.

Florian Mehnert glaubt, dass Big Data-Technologien so neu seien und sich so schnell durchsetzen, dass in den Köpfen der Menschen kaum Bilder und Vorstellungen davon existieren, was technologisch möglich ist und was die vielen Veränderungen für sie bedeuten können. Bezogen auf den Bildungsdiskurs betont Mehnert, dass es extreme Narrative und Bilder brauche, um Verstehensprozesse anzustoßen. Dies war auch der Grund, den Wald als einen traditionellen Schutzraum zu verwanzen. Die Spaziergänger*innen, die mit einigem Erstaunen auf die Mikrofone reagierten, verstanden sofort, dass hier ihre Privatsphäre verletzt wurde.

Welche Strahlkraft Metaphern und Bilder entwickeln können, zeigt die Warnung der US-Ökologin Rachel Carson. Sie machte in den 1960er Jahren auf die verheerenden Folgen des Umweltgiftes DDT aufmerksam und entwarf das düstere Szenario eines „stummen Frühlings“. In ihrem gleichnamigen Buch wählte Carson ein akustisches Bild und warnte vor dem Verschwinden der Vogelstimmen, die für das Wohlbefinden der Menschen schon immer wichtig waren. Ihr Weckruf war daher einfach zu verstehen.

Die Kunstinstallation hat nichts von ihrer Brisanz eingebüßt und kann nach wie vor im Netz besucht werden: waldprotokolle.florianmehnert.de
Zusätzliche Informationen zum Projekt gibt es auf der Website von Florian Mehnert.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Art & Algorithms“ des Grimme-Forschungskollegs hat Florian Mehnert am 12. Oktober 2018 einen Vortrag gehalten, der auch auf die „Waldprotokolle“ eingeht. Eine ausführliche Dokumentation dieses Vortrages mit anschließender Diskussion kann auf der Website des Grimme Forschungskollegs heruntergeladen werden.