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Weiterrennen oder Innehalten? Mit Müßiggang ein Zeichen setzen

Warum fehlt es eigentlich immer an Zeit? Zeit ist eine Messgröße zur Abfolge der Ereignisse, sagt die Physik, da wird nichts weniger. Stattdessen wird wohl etwas anderes mehr: meine Vorhaben, die Aufgaben, meine Pflichten, vielleicht auch die Ideen. Da ist sie also: die „beschleunigte Gesellschaft“ im „Turbokapitalismus“. Aber wie trifft mich das? Ich verwende nicht mehr Zeit für Arbeit als zum Beispiel die Generation meiner Eltern oder Großeltern. Vor hundert Jahren mussten die Menschen noch richtig schuften. Die Zeitnot hängt sicherlich mit der unendlichen Menge an Lebensoptionen, an Freizeit- und medialen Angeboten zusammen. Im Alltag kann ich mich permanent mit Musik berieseln lassen, mit praktisch allen Menschen, die ich kenne, jederzeit, quer über den Erdball mit Bild und Ton in Kontakt treten. Ich muss nicht selbst einkaufen oder kochen, ich kann alles bestellen. Wie der Soziologe Hartmut Rosa es formulieren würde, haben wir uns alle kulturelle Genüsse und Ereignisse verfügbar gemacht.

Das, was nun immer enger wird, ist Raum und Zeit, um diese Errungenschaft zu genießen, sich mit Freund*innen zu verabreden, um dies zu teilen oder mal zu chillen. Was mir im Alltag fehlt, ist die Pause-Taste, um zu reflektieren, was mir dieser Gewinn an Zeit und Raum alles schenkt – und zu welchem Preis.

Wo hast du den Raum, dir die Frage zu stellen, wie du dich selbst wieder in Kontakt bringst, dich selbst verfügbar machst? Was machst du stattdessen? Du blätterst in diesem Programmheft. Wenn dich diese Gedanken ansprechen, dann nimm dir doch ein paar Minuten Zeit, diese Frage für dich zu beantworten: Wo kann ich heute innehalten?

Und wenn du in diesem Programmheft weiterblättern möchtest, dann könnte dies auch unter der Frage stehen: Wo kann ich beiseitetreten, um den Kontakt zu mir zu fördern? Bildung nicht als rein fachlichen Input aufzufassen, sondern als Raum zur Selbstentwicklung, ohne vorgefertigte Ziele und Termindruck, wäre vielleicht auch eine gute Antwort.

Kannst du dich erinnern, wann du dich das letzte Mal so sehr gelangweilt hast, dass es praktisch wehtat? Und kannst du dich erinnern, welche fantastischen Ideen daraus manchmal entstanden sind? Hartmut Rosa würde es so ausdrücken: Du hast Kontakt mit dem Unverfügbaren gemacht. Aus dem erlebten Moment heraus kann ein Flow werden, vielleicht eine Art kreative Trance. Aber da dies unverfügbar ist, kannst du zwar die Bedingungen für ein solches Erleben erhöhen, dieses aber nicht mit Absicht erzeugen. Dies ist ein Aspekt in der Künstlerisch-Systemischen Therapie oder Supervision. Jetzt heißt es aber, nicht gleich wieder in die „Verfügbarkeitsfalle“ tappen und quasi nur als Methode innehalten, mit dem Ziel, dadurch noch kreativer und produktiver zu werden.

Vielleicht lieber etwas Muße als Muse? Müßiggang bedeutet Nichtstun, zumindest nicht als geschäftige Tätigkeit, sondern ohne Absicht, am besten faul oder unterhaltsam. Wie cool ist das denn: Ich tue einfach nichts und bekomme daraus recht viel? Ich gehe spazieren und schaue, was mir begegnet. Ich bleibe zuhause im Bett und lese mitten am Tag ein gutes Buch. Dass das gesamtgesellschaftlich als schädlich angesehen wird, lässt sich leicht daran ablesen, dass Faulheit im christlichen Glauben als die letzte der Todsünden gilt.

Aber: Veränderung braucht oft einen Regelbruch. Pflege also den Müßiggang, so dass es jede*r sehen kann! Setze ein Zeichen und komme in Kontakt mit deiner Langeweile! Werde offen für unverfügbare Flow-Momente – vor allem jene ganz besonderen, die du niemals planen kannst. Ich mach das – ganz bestimmt – aber ich muss erst noch die Zeit dafür finden.

Autor*in: Dr. Thomas Reyer

Eine Langfassung des Beitrags gibt es im Podcast „Gedankenstich – aus dem systemischen Nähkästchen von Thomas Reyer“.