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„Woke“ – Ein Balance-Akt zwischen Moral, Demokratie und Selbstbestimmung?

"Woke" - Ein Balance-Akt zwischen Moral, Demokratie und Selbstbestimmung?

„Woke!“ Für die einen ein Aufbruch in eine neue Gesellschaft „mit berechtigten Anliegen von Fridays for Future bis zur MeToo-Bewegung“, wie der „Tagesspiegel“ skizziert. Für die anderen eine Bezeichnung moralisierender Dogmatiker*innen, die nach dem Literaturkritiker Ijoma Mangold mit „Unerbittlichkeit […] jede Form der Abweichung vom Weg des wahren Heils […] ächten“, wie die „Zeit“ schreibt.

Der Begriff „Woke“ ist älter als eben skizzierte Feuilletonausschnitte aus jüngster Vergangenheit. Er hat seine Wurzeln in der Bürgerrechtsbewegung der USA. Erykah Badu rappte ihn 2008. In Ferguson riefen 2014 demonstrierende Afroamerikaner*innen „Stay woke“, als Polizist*innen einen unbewaffneten 18-jährigen Schwarzen erschossen hatten. Und nun wird eine ganze Generation unter diesem Begriff subsumiert.

Was bedeutet dies für die Kulturelle Bildung? Moralische (Jugend-)Bewegungen hat es schon früher gegeben, wie die Bürgerrechts-, Frauen- oder Friedensbewegungen. Im Gegensatz zu diesen Bewegungen, deren Kritik sich vorrangig an den Staat und die gängige Gesetzgebung richtete, vollzieht sich die Kritik der Woke-Aktivist*innen eher „bottom up“. Ihr Anspruch besteht darin, Gesellschaft von innen heraus zu verändern. Neben eigenem vorbildlichem Verhalten richtet sich ihre „Wachsamkeit“ und damit ihre Protestkritik an jene, die nicht „woke“ sind in Äußerungen und Taten. Das heißt, ein Grundprinzip des Individualismus – jede*r lebt nach seiner Fasson – wird damit aufgebrochen.

Eine solche Ahndung von „unkorrektem Verhalten“ kann in Zeiten von Social Media, Shitstorms und Cancel Culture massive Konsequenzen haben, so das Ausladen von Veranstaltungen bis hin zur Beendigung von Arbeitsverträgen, und das, obwohl die Betroffenen vor dem Gesetz keine Straftat verübt haben. Beispiele hierfür sind das Entfernen des Gomringer-Gedichts von den Wänden einer Berliner Hochschule oder die Kündigung des Übersetzungsauftrags der niederländischen Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld für das Gedicht von Amanda Gorman.

Daraus ergeben sich kritische Fragen für das Selbstverständnis der Kulturellen Bildung, die mit dem Medium der Künste agiert. Wie steht es um die Wahrung von Kunstfreiheit? Wie sieht es mit dem Anspruch der Künste aus, hier dem Regelbruch, dem Negieren von Richtig oder Falsch und ihrer Prozesshaftigkeit? Und wie ist es mit der Subjektorientierung, dem Anspruch der Entwicklung eines „starken Subjekts“ in der Kulturellen Bildung? Kulturpädagogische Praxis möchte innerhalb eines offenen Bildungsprozesses Perspektivwechsel ermöglichen. Es gibt viele spannende kulturpädagogische Projekte zu Themen der Diversität oder Nachhaltigkeit, die Raum schaffen für Perspektivwechsel. Was passiert jedoch, wenn der gesellschaftliche Umgang mit Diversität und Nachhaltigkeit zum Dogma wird? Ist es dann Aufgabe einer emanzipatorischen Kulturellen Bildung als kritisches Korrektiv, wiederum Perspektivwechsel auf bestehende Dogmen zu ermöglichen?

Vielleicht ist die Zeit reif, den Individualismus wieder stärker zurückzufahren, zugunsten des Gemeinwohls. Aber wäre es für den menschlichen Zusammenhalt dann nicht besser, Prinzipien der Diversität und Nachhaltigkeit demokratisch auszuhandeln und gesetzlich zu verankern, sodass ein „Wächtertum“, letztlich ein Prinzip ideologischer Gesellschaften, innerhalb des sozialen Umfelds obsolet wird? Wie viel Willensfreiheit bedarf es, um Mensch zu sein? Und wie viel Eigenwillen, der garantiert, dass gesetzte Grenzen immer wieder neu überschritten werden?

Autor*in: Prof. Dr. Susanne Keuchel