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„Über“ oder „mit“? Zur Mehr-Perspektivität in der Kulturellen Bildung

Ein dunkelhäutiges Mädchen und ein hellhäutiger Junge mit Käppi stehen in einem Karton und halten Ausschau.

In den 1990er Jahren griff James Charlton, Aktivist für Behindertenrechte, ein Leitmotiv demokratischer Bewegungen auf und formulierte den Slogan „Nothing about us without us“. Der besagte, dass Menschen mit Behinderung – etwa bei Planungsprozessen – am besten wissen, was sie brauchen. Gayatri Spivaks Essay „Can the Subaltern Speak?“ (1988) verallgemeinert dies – im Kontext postkolonialer Diskurse –, wenn sie nicht nur Unterdrückungsmechanismen kritisiert, sondern auch „gut meinende“ Aktivist*innen, die glauben, für „andere“ sprechen zu müssen.

Daran lässt sich für die die Kulturelle Bildung anschließen: Sprechen auch wir in den Kursen für andere und stellen dabei doch nur unsere eigene Sichtweise dar? Müssten wir nicht vielmehr die Stimmen „anderer“ hörbar machen?

Ein Beispiel für eine solche, unbequeme Stimme: Auf der Documenta in Kassel im Jahr 2022 veranstaltete das Netzwerk Exploring Visual Cultures (EVC) einen Workshop, an dem auch Kulturpädagog*innen aus Ghana, Kenia, Kamerun und Südafrika teilnahmen. Sie besuchten dort die von Atis Rezistans (Künstler*innen des Widerstands) aus Haiti in einer Kirche gestaltete Installation. Diese war von Voodoo beeinflusst und bestand aus gefundenen Materialien, aus geschnitztem Holz und menschlichen Überresten wie Schädeln. Für die deutschen Teilnehmer*innen kein Problem.

Ganz anders jedoch für Kolleg*innen aus Afrika: Die Installation erinnerte sie an das, was die Europäer*innen in der Missionierung – als sie Afrika zu Kolonien machten – als sogenannte Fetischschreine austrieben. Die Konfrontation mit solchen Schreinen führte zu heftigem Aufbegehren, wie auf der Webseite des EVC zu lesen ist: „Fetischschreine sind zu einem heiligen Ort der Anbetung erhoben. Ist das eine Heiligsprechung? … Für mich als Afrikaner, der in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen ist und für den traditionelle afrikanische Artefakte dämonisch sind, war das schockierend. Eine dämonische Bildsprache in einer Kirche, in einem Land, das uns unsere ursprüngliche Anschauung ausgetrieben hatte! Es fühlte sich an, als hätte Satan in der apokalyptischen Schlacht über Christus gesiegt. Wurde ich die ganze Zeit über belogen oder wurde ich dazu gebracht, einen Schatz aufzugeben, den ich vielleicht aus Versehen vererbt bekommen habe?“

In diesem Beispiel geht es „nur“ um die „andere Perspektive“. Doch was bedeutet es, wenn diese „andere Perspektive“ plötzlich auch entscheidet? Das zeigte die Documenta selbst, die zum Clash of Cultures wurde. Mit der indonesischen Künstler*innen-Gruppe Ruangrupa (Raum der Kunst oder Raum- Form) als Kuratorin, die frei entscheiden konnte, drang eine indonesische Denkweise in die westliche Struktur ein, ohne sich groß um die Erwartungen aus Europa zu kümmern. Europa mit seinen Maßstäben, Vorstellungen und Konzepten wurde im Handeln von Ruangrupa zur „Chakrabarty“ (Provinz), d. h. zu einem Europa, das aus indonesischer Sicht einfach nicht mehr von großer Relevanz ist. Eine essenzielle Umkehrung der Machtverhältnisse, die das deutsche System nahezu zum Kollabieren gebracht hat.

Dass es aber in der Kulturellen Bildung (zumindest in den Nischen) wiederum ganz leicht zugehen kann, zeigt eine unlängst erschienene Handreichung des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) zum deutschen Kunstunterricht mit dem Titel „Globale Perspektiven im Kunstunterricht am Beispiel von Objekten aus Westafrika“. Die Inhalte wurden nicht in Deutschland, sondern in Ghana festgelegt.

Autor*in:
Dr. Ernst Wagner